Donnerstag, 11. Juni 2009

100% FDP, ein Einzelbewerber mit Doppelsitz und die Wahlpflicht

Die Kommunalwahlen in Deutschland am 7.6.2009 haben ein paar skurrile Ergebnisse gebracht: In Deutschneudorf im Erzgebirge stellt die FDP künftig alle 12 Ratsherren und -damen. Und in Wismar hat ein Einzelbewerber - was mich naturgemäß besonders anspornt - so viele Stimmen geerntet, dass er theoretisch zwei Plätze im Rat einnehmen könnte.

Das Resultat in Deutschneudorf erinnert ein wenig an den 15.9.1946, den Tag der ersten Burscheider Gemeindewahl nach dem Krieg: Da hatte die (erst später verbotene) KPD einen Sitz ergattert, die CDU zwei, die SPD drei und die FDP stellte mit 15 - in Worten fünfzehn - Sitzen, also mit mehr als 70% die verfassungsändernde Mehrheit im Burscheider Rat (Zahlen nach: Bergischer Geschichtsverein, Das Kriegsende in Burscheid [2006], S. 62). Auch das ein echter Ansporn, nicht wahr?

Bemerkenswert ferner: Das Deutschneudorfer Ergebnis kam mit immerhin 63% Wahlbeteiligung zustande. Und das ist deutlich mehr als bei der zeitgleichen Europawahl: Dort waren es gerade einmal 43% EU-weit und in Deutschland, dabei 42% in NRW. Die geringe Wahlbeteiligung hat den SPD-Abgeordneten Prof. Jörn Thießen veranlasst, künftig eine Wahlpflicht nach belgischem Vorbild zu fordern, und zwar strafbewehrt mit 50 €. Menschlich nachvollziehen mag man das ja: Für die SPD war die Wiederholung des bereits desaströsen Ergebnisses von 2004 bzw. die Stabilisierung auf einem Niveau von nur ca. 20% besonders frustrierend. Aber hilft dagegen denn eine Wahlpflicht?

Erstmal: Demokratie ist auf eine prinzipiell freiwillige Mitwirkung angelegt - mit durch Zwang erreichten hohen Beteiligungsquoten schmücken sich eher die zweifelhafteren Regierungen. Zum zweiten: Zwar mag eine hohe Beteiligung den Nachtschlaf der Politiker beruhigen - aber die Zahl der Nichtwähler ist eine unverzichtbare Rückmeldung an die zur Wahl Stehenden selbst:
  • Finden die Bürger/innen die Dienstleistung Politik noch wichtig?
  • Oder, um es in den Worten von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes zu sagen - sehen sie die Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes noch als relevant für die Entwicklung ihrer Lebensverhältnisse an?
Kurz:
  • Lohnt es sich denn für sie überhaupt noch, zum Wahllokal zu pilgern?
  • Oder haben sie den Eindruck, mittels eines Wahlprozesses und über das real existierende politische System gar nichts Entscheidendes ändern können?
  • Und empfinden sie ihre demokratische Mitwirkungshandlung eher als aufgezwungenes, lästiges Ritual?

Seien wir einmal ehrlich: Die demokratische Struktur der EU und der Mehrwert einer EU-Wahl sind den Bürgern nach wie vor sehr schwer verständlich zu machen; die Erfolge der EU-Skeptiker und die Ergebnisse der ungeliebten nationalen Referenden zeigen das sehr deutlich. Nach herkömmlichen Maßstäben ist das europäische Parlament - übrigens das teuerste dieses Planeten - auch gar keines. Jedenfalls könnte - um es einmal plastisch auszudrücken - die EU mit ihren gegenwärtigen Institutionen kaum hoffen, bei sich selbst Mitglied zu werden: Normale Parlamente besitzen volle Budgethoheit, sie setzen die Spitzen der Administration ein und sie legen mit einem uneingeschränkten legislativen Vorschlagsrecht die Grenzen des Regierungshandelns fest. Mit Bedauern kann man hier noch anmerken: Trotz der strukturellen Defizite regelt oder beeinflusst die Union immer mehr Lebensbereiche durch EU-Normen - ein kontinuierlicher Prozess demokratischer De-Legitimation, der seinerseits Wahlverweigerungen fördern mag.

Eine künftige Wahlpflicht mag den System-Beteiligten das Leben erleichtern. Aber sie würde gleichzeitig jeden reality check der Delegierten ausschließen, die ohnehin den Wählern weit entrückt sind, die Wahlpflicht würde den gegenwärtigen demokratischen Dämmerschlaf verewigen und des Kaisers Kleider würden nur noch durchscheinender. Die Pflichtwahl würde mich sehr an das Grüßen des Gessler-Hutes erinnern. Die Pflicht der Bürger, diesem Hut alle Ehre zu erweisen, auch wenn der Amtsträger gerade nicht darunter steckte, hat der Sage nach einen gewissen Wilhelm Tell heftig politisiert und die Gründung der ebenso erfolgreichen wie basisdemokratischen Schweiz gefördert.

Verstehe mich niemand falsch: Ich halte das kulturelle, politische und wirtschaftliche Zusammenwachsen in Europa für ganz und gar alternativlos, sehe übrigens im Euro auch keinen Teuro, sondern ein Völker-verbindendes und Transparenz-schaffendes Zahlungsmittel. Aber ich weiß auch um die Eigendynamik von Institutionen (Cyril Northcote Parkinson lässt grüßen), ich weiß um die nach wie vor durchschlagende wirtschaftspolitische Grundausrichtung der Union und um die Hausaufgaben, die bis zu dem fortwährend beschworenen EUROPA DER BÜRGER noch zu machen sind. Und zwar von demokratischen Politikern.

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